„Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.“ Dieses sehr bekannte Gebot im Christentum kennt wohl jeder. Und doch stelle ich immer wieder fest, daß ich es in manchen Fällen leider nur sehr schwer einhalten kann.
Das heißt nicht, dass ich deshalb zum alten Grantler mutiere und mit gefletschter Stirn, miesepetrig „alle doof“ finde. Nächstenliebe ist ein hohes Gut, das unsere Gesellschaft zusammenhält. Ob nun als gelebte christliche Überzeugung, als Grundsatz einer anderen Glaubensrichtung oder einfach einer humanistischen Grundeinstellung geschuldet.
Und sie macht ja auch etwas mit mir. Wenn ich den Menschen in meiner Umgebung grundsätzlich wohl gesonnen bin, ihnen erst einmal ein Lächeln schenke und freundlich zu ihnen bin, dann sorge ich auf beiden Seiten für ein angenehmes Klima, das beiden gut tut.
Aber dann.
Jeder von uns kennt vermutlich mindestens eine Person, bei der das Thema Nächstenliebe so eine Sache ist.
Persönlich kann ich sagen, dass dies in meinem Leben ein sehr kleiner Bereich ist. Dafür bin ich dankbar. Ich bin sicher, dies hängt damit zusammen, dass ich vom Naturell einfach mehr dazu neige zu lächeln und auf Menschen zuzugehen, als ihnen ablehnend zu begegnen.
Doch in jüngerer Vergangenheit gab es in meinem Leben eine Person, bei der änderte sich dies relativ schlagartig.
Es traten charakterliche Seiten dieses Menschen zu Tage, mit denen so nicht zu rechnen war. Meine Grundeinstellung, erst einmal von der Unschuldsvermutung auszugehen und die Überzeugung, dass jeder und jede eine zweite, auch eine dritte Chance erhalten sollte, ist für mich nach wie vor richtig. Dennoch stand mir in diesem Fall beides im Wege.
Warum?
Zum einen war in mir dieses Bestreben, nicht vorschnell zu urteilen und erst einmal nüchtern und so objektiv wie nur irgend möglich, die Sachlage zu analysieren. Ohne dies konnte jede getroffene Entscheidung meinerseits, in die falsche Richtung gehen.
Was tust du als nächstenliebender Christ nun?
Du versuchst zu verstehen, was da vor sich geht. Gibt es vielleicht gute Gründe, warum die betreffende Person so und nicht anders gehandelt hat oder gar nicht anders hätte handeln können? Bist du selbst objektiv in der Sache oder lässt du dich von persönlichen Gefühlen in deiner Objektivität beeinflussen? Welche Möglichkeiten hast du, die Situation zu entschärfen, auf diesen Menschen zuzugehen? Kannst du ihr vielleicht sogar helfen?
Und je intensiver ich in diesen Fall eintauchte, umso mehr offenbarten sich Charaktereigenschaften und traten Handlungen dieser Person zu Tage, die mich zutiefst erschütterten. Ich merkte, wie ich begann immer mehr auf Distanz zu gehen. Dennoch wollte ich nicht kampflos kapitulieren.
Also ging ich weiter auf die Person zu, streckte die Hand aus. Ohne Ergebnis. Statt dessen noch mehr Ausflüchte, trotz erdrückender Beweise. Manöver, Winkelzüge, Lügen. Ja sogar bis hin zu sinnlosen Drohungen.
Kein Wunder also, dass es bei mir so manche schlaflose Nacht gab und die Gesamtsituation immer mehr zu einer wachsenden Belastung wurde.
Erstmals in meinem über sechzigjährigen Leben kam ich zu der Erkenntnis: dieser Mensch tut mir nicht gut! Nur eine rigorose Trennung und der vollständige Abbruch jeglicher Beziehung konnten hier noch helfen.
Man mag mich naiv schelten, so lange gewartet zu haben. Doch ich schrieb ja bereits, dass mir in dieser Situation die Nächstenliebe tatsächlich im Weg stand. Das eingangs erwähnte Gebot besteht aber aus zwei Teilen. „Liebe deinen Nächsten“, lautet der erste Teil. Doch es geht weiter: „wie dich selbst!“.
Mit dem landläufigen, negativen Egoismus hat dieser zweite Teil gar nichts zu tun. Hier geht es um einen „positiven“ Egoismus. Einem „Eigennutz“, der mir im Inneren, in der Seele, „nutzt“.
Liebe deinen Nächsten. Aber: pass auf dich auf!
Irgendwie genial, oder? Das ist wirklich sehr weise. Eine gute Erkenntnis, die mir wieder einmal vor Augen hält, wie großartig der Gott ist, an den ich glaube.
Ich schweife ab.
Eine Entscheidung stand an: Trennung und Abbruch der Beziehung.
Vielleicht kannst du dir denken, dass es mich trotzdem noch einmal Überwindung kostete, diesen krassen Schritt zu gehen. Doch am Ende war es der entscheidende Befreiungsschlag, der notwendig war. War er voll Nächstenliebe? Nein, nicht mehr. Nun wechselte es auf simplen Selbstschutz.
Was soll ich sagen? Von da an ging es mir wieder besser.
Ich bin davon überzeugt, dass es eine höhere Gerechtigkeit gibt und nichts ungesühnt bleibt, was ich im Leben so alles verbocke. Meist werden die Konsequenzen meines Tun oder Lassens schnell sichtbar, haben Auswirkungen. Manchmal dauert es länger und manchmal scheint gar nichts zu geschehen.
Bezogen auf die Person meines Berichtes, gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass die Gesamtsituation, wenn auch nach außen unsichtbar, etwas in und mit ihr gemacht hat. Ein paar kleine Anzeichen sprechen dafür. Ich weiß es natürlich nicht.
Was ich jedoch weiß ist, dass es im Miteinander Menschen geben kann, die dir nicht gut tun. Mein Beispiel ist sicher nur ein kleines dafür. Dieses „Nicht gut tun“ gibt es auf dieser Welt noch in wesentlich schlimmeren Ausprägungen. Ausprägungen die für Betroffene eine zu weilen extrem hohe Belastung darstellen.
In diesen Fällen jenseits der Nächstenliebe ist „Trennung“ dann der bessere Weg. Ohne Rache. Wenn möglich ohne Groll. Denn du sollst deinen Nächsten lieben – und auch dich selbst.